Das Wachstum wartet hinter der Angst

„Wovor hast du Angst?“, fragen sich Kinder gerne gegenseitig und das ist finde ich ziemlich schlau. Sie bekennen sich öffentlich zur ihrer Angst, nehmen sie wahr und an und bekommen im Gegenzug (wenn es gut läuft) einen Einblick beim Gegenüber, der/ die vielleicht eine ganz andere Angst nennt und in sich trägt.

Dieses Beispiel zeigt auf einfache Art und Weise wie spielerisch Kinder mit dem Leben umgehen.

Es ist normal, dass wir Angst haben. Jeder hat Angst, bewusst oder unbewusst. Da die Angst jedoch im Laufe des Erwachsenwerdens mehr und mehr an Status einbüßt, wird sie im Laufe der Jahre nicht mehr so selbstverständlich zur Sprache gebracht. Manchmal wird sie sogar unterdrückt oder mit einem Scham- oder Schuldgefühl verbunden.

Die Angst wird in der Psychologie zu den sechs primären Emotionen gezählt. In dieser Gruppe befinden sich ebenfalls Freude, Trauer, Ärger, Überraschung und Ekel. Der heutige Stand der Wissenschaft schätzt die Entstehung dieser Basisemotionen als genetisch ein. Wir alle haben sie in die Wiege gelegt bekommen. Als Geschenk. Als Würze für unser Leben. Als Überlebensstrategie.

 

Doch was unterscheidet eine Emotion von einem Gefühl? Vereinfacht gesagt entsteht eine Emotion immer durch einen äußeren Reiz, der auf uns und unseren Körper einwirkt (z.B. ein allein umherstreunender Hund mit gefletschten Zähnen rennt auf mich zu, ich reagiere mit Angst). Emotionen lassen sich äußert schwer steuern, oft treten sie effektartig auf.

Gefühle hingegen sind die Reaktion des Körpers auf primäre Emotionen, die er verarbeitet. Sie sind immer da, mal präsenter, mal unscheinbarer, mal stärker, ein anderes Mal schwächer.

Wenn primäre Emotionen unterdrückt werden, versuchen sie es sozusagen durch die Hintertüre und bringen sich als sekundäre Emotionen zum Ausdruck. Ein Beispiel: Wenn eine dir nahestehende Person etwas Verletzendes zu dir sagt und du Trauer fühlst (primäre Emotion), diese Trauer aber nicht zum Ausdruck bringen kannst oder möchtest, zeigt sich vielleicht eine starke Reaktion von Wut, Ärger oder Unverständnis als sekundäre Emotion. Ein wahrnehmbares, inneres Gefühl.

Das bekannte Bild des Eisbergs eignet sich auch hier, um den Unterschied zu verdeutlichen: 95% des Eisbergs befindet sich unter der Wasseroberfläche: unsere Emotionen. Die Spitze des Eisbergs sind in der Folge unsere Gefühle, die den Weg in unser Bewusstsein schaffen.

Alle primären Emotionen können theoretisch auch sekundäre Emotionen sein und somit ist und bleibt die Angst lediglich eine weitere Gefühlsregung in unserer Farbpalette der Emotionen, da gibt es noch so viel mehr!

Freude, Liebe, Leichtigkeit, Traurigkeit, Unbeschwertheit, Ohnmacht… um nur ein paar zu nennen.

 

Warum also bekommt die Angst einen Sonderstatus? Angenommen ich wäre die Emotion der Angst: Ich versuche es von Zeit zu Zeit Aufmerksamkeit zu bekommen, gesehen zu werden aber meist werde ich weggedrückt, möchte nicht gefühlt werden.

Ich höre Sätze wie „Ich habe keine Angst.“ „Ich habe Angst vor meiner Angst.“ „Ich kann meine Angst körperlich nicht aushalten.“ „Meine Angst versperrt mir den Weg.“ „Ich will diese Angst nicht.“

Nicht jeder möchten mich fühlen, ich bin aber trotzdem da! Ich bin reine, pure Energie. Ich löse mich nicht einfach so auf – ich muss entladen werden. Ich will gefühlt werden.

Das Wort E-motion heißt übersetzt Energy in motion. Energie in Bewegung. Und wenn der Emotion die Bewegung genommen wird, dann stockt und blockiert sie unsere Energiekanäle. Nicht, weil sie uns einen Streich spielen möchte, sondern weil es in ihrer Natur liegt zu fließen! Sie will gefühlt und bewegt werden. Und zwar in dem Moment, in dem sie aufkommt. Voll. Ganz. Unverändert.

Und genau das ist der Schlüssel. Wenn wir dieses Fühlen zulassen, über unsere Angst hinwegsteigen, dieses Gefühl vielleicht nicht aushalten zu können, dann passiert etwas Magisches. Das Gefühl der Angst läuft durch uns hindurch, anstatt sich aufzustauen und größer und beängstigender zu werden. Ja, das kann sich „nicht gut“ und schmerzhaft anfühlen, es kann aber auch befreiend und zutiefst authentisch sein. Vor allem danach.

 

Ich möchte ein kleines Beispiel aus meiner Seminarwoche in Hamburg vor zwei Wochen mit dir teilen.

Eine meiner größten Ängste seit 2017 (meinem beruflichen und privaten Umbruch) ist, etwas nicht zu schaffen, etwas nicht aushalten zu können, nicht genug Energie zu haben, um eine Situation zu bewältigen.

Und genau diese alte, im Unterbewusstsein abgespeicherte Angst kam in diesem Seminar wieder auf.

Die Einladung war folgende: 8 Stunden Input + Coachingübungen pro Tag, Socialising in den Pausen, lange Seminartage plus eine neue Umgebung, neue Wohnung und wenig bis keine Zeit etwas sacken zu lassen.

All diese Eindrücke fielen wie ein Platschregen auf mich und stülpten mir diese Angst über, machten mich eng und innerlich erstarrt.

Es war eine Mischung aus Hilflosigkeit, Ratlosigkeit, Erschöpfung und Starre.

Mit meinem rationalen Verstand wusste ich, dass dies eine alte, an die Vergangenheit gekoppelte Empfindung war und dass ich genügend Energie und Reserven hatte, um diese Woche kraftvoll zu durchschreiten.

Wenn jedoch das übermächtige Unterbewusstsein am Werk ist, hat der Verstand mit seinen 5% Einfluss keine Chance auf Mitspracherecht.

Ich musste die Angst zulassen, ihr Raum geben und sie aussprechen.

Und so nutzte ich mein Einzelcoaching an diesem Tag, um genau das zu tun. Die Tränen ließen nicht lange auf sich warten.

Zulassen. Fühlen. Befreiung. Fließen.

Mein Kloß im Hals und die Verspannung in meinem Körper lösten sich allmählich, während mir die Coachin liebevoll ein Taschentuch reichte. Sie war einfach da. Sie stellte keine Frage, machte keinen Vorschlag, sondern sie hielt einfach diesen Raum, indem sie die Stille zuließ und ich Sein durfte.

Wie nährend und heilsam.

Da sich das Gefühl ein paar Tage angestaut hatte brauchte es auch eine Weile sich zu lösen.

Ich gab ihm den Raum. Bedingungslos und mir selbst liebevoll zugewandt. Ohne Maske, ohne Versteck, ohne Visier.

 

Ich wünsche mir so sehr, dass ich mich immer öfter traue, diese Gefühle zuzulassen und zwar in dem Moment, in dem sie da sind.

Fließen lassen. Fühlen und Präsent Sein. Immer wieder aufs Neue.

Ich bin mir sicher, hätte ich diesen Raum nicht zugelassen (so wäre es vor drei Jahren noch gewesen), hätte ich das Seminar am dritten Tag abgebrochen.

Die restliche Woche verlief nicht völlig unbeschwert und reibungslos, trotzdem spürte ich meine innere Stärke, die mit dieser Erfahrung durch die Angst hindurch wieder ein Stückchen wachsen durfte.

Was für ein erhebendes Gefühl!

 

Was ist deine größte Angst? Wie kannst du sie immer wieder an die Hand nehmen, um ein Stück mir ihr gemeinsam in diese Richtung zu gehen?

 

 

Es gibt keine Grenzen. Weder für Gedanken, noch für Gefühle. Es ist die Angst, die immer Grenzen setzt.

Ingmar Bergman

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Mechthild (Freitag, 23 Juli 2021 16:55)

    Ich habe eben erst diesen Bericht gelesen. Ich finde es gut, dass du dich so öffnen kannst und dich selbst so klar beurteilst. Ich weiß nicht, ob ich das kann; ich denke allerdings auch nicht so intensiv über mich nach; ich weiß auch nicht, ob ich Angst habe - und ich könnte auch nicht so darüber schreiben. Du machst das richtig gut